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Effektivität und Effizienz der Verwaltungsgerichtsbarkeit

1./ Kurze Vorstellung der Vereinigung Europäischer Verwaltungsrichter

Die Vereinigung Europäischer Verwaltungsrichter ist ein Dachverband, welcher sich aus nationalen Vereinigungen, die zur Vertretung der Interessen von Verwaltungsrichtern berufen sind, zusammensetzt.

Gibt es in einem bestimmten Staat keine solche Vereinigung, so besteht eine Option zwischen dem Beitritt der allgemein zur Vertretung der Interessen von Richtern berufenen Vereinigung und dem Beitritt von Verwaltungsrichtern als individuellen Mitgliedern.
Mitglieder können Vereinigungen aus allen Ländern des Europarates werden. Die Vereinigung vertritt derzeit über 3000 Verwaltungsrichter aus 13 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union

Es gilt der Grundsatz "one country, one vote".

Zielsetzung der Vereinigung ist die Vertretung der Interessen von Verwaltungsrichtern aller Instanzen auf europäischer Ebene, insbesondere gegenüber der Europäischen Union und dem Europarat. Besondere Wichtigkeit hat diese Zielsetzung durch das am 10. Mai 2005 von der Europäischen Kommission im Anschluss an den Gipfel von La Haye angenommene Arbeitsprogramm erlangt, welches auf die Evaluierung der von den innerstaatlichen Gerichten praktizierten Anwendung der Politiken und juridischen Instrumente der Europäischen Union abzielt. Deshalb hat sich die Vereinigung in den nächsten zwei Jahren auch den Themenschwerpunkt "Unabhängigkeit und Effizienz der Verwaltungsgerichtsbarkeit" gestellt.

Betonen möchte ich freilich, dass die folgenden Ausführungen meine private Meinung und keine koordinierte Position der Vereinigung wiedergeben.


2./ Aufgaben der Verwaltungsgerichtsbarkeit

Die Anforderungen an die Effektivität und Effizienz der Verwaltungsgerichtsbarkeit sind meines Erachtens unter Berücksichtigung ihrer Aufgaben zu definieren. Folgende Kontrollfunktionen haben sich herausgebildet:

2.1./ Kontrolle der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns

Dabei handelt es sich gleichsam um die "klassische" Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit, wie sie dem liberalen Staatsbegriff des 19. Jahrhunderts entspricht. Es soll durch unabhängige Richter kontrolliert werden, ob sich die Exekutive in jenem Rahmen hält, der ihr von der Legislative vorgegeben wurde.

2.2./ (Mitwirkung bei der) Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des Verwaltungshandelns

Die Verwaltungsgerichtsbarkeit übt darüber hinaus (jedenfalls im Einzelfall) auch eine Kontrolle über den einfachen Gesetzgeber dergestalt aus, dass sie zu prüfen hat, ob einfache Gesetze der Verfassung entsprechen oder nicht. Die Konsequenzen sind unterschiedlich. In manchen Staaten (z.B. Deutschland, Österreich, Polen, Slowenien und Ungarn) besteht im Falle von Verfassungsbedenken gegen ein einfaches Gesetz die Verpflichtung des Verwaltungsgerichtes, eine entsprechende Entscheidung eines Verfassungsgerichtes einzuholen; die Verwaltungsgerichtsbarkeit wirkt in diesen Fällen an der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der einfachen Gesetze mit. In anderen Ländern (etwa Griechenland, Finnland und Schweden) ist die Verwaltungsgerichtsbarkeit befugt, verfassungswidrige Gesetze unangewendet zu lassen.

2.3./ (Mitwirkung bei der) Kontrolle der Konformitität des Verwaltungshandelns mit dem Gemeinschaftsrecht

Die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist berufen den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechtes gegenüber innerstaatlichem Recht zu beachten und bei der Kontrolle von Verwaltungsakten auch durchzusetzen. Sie übt daher jedenfalls im Einzelfall auch eine indirekte Kontrolle der Konformität der innerstaatlichen Rechtsordnung mit dem Gemeinschaftsrecht aus. In Fällen, in denen die Prüfung der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit innerstaatlichen Rechtes die Klärung einer Auslegungsfrage von Gemeinschaftsrecht voraussetzt, besteht für letztinstanzliche Verwaltungsgerichte im Anwendungsbereich des Art. 234 EG die Pflicht, für andere Verwaltungsgerichte das Recht, eine Vorabentscheidung durch den Europäischen Gerichtshof einzuholen.

2.4./ Mitwirkung bei der Kontrolle der Gültigkeit von Gemeinschaftshandlungen allgemeiner Geltung durch der Europäischen Gerichtshof

Auch diese, vom Europäischen Gerichtshof in den Rechtssachen Jégo-Quéré 
und Uniòn de Pequenos Agricultores (UPA) besonders betonte Aufgabe soll nicht unerwähnt bleiben. Nach dem zuletzt genannten Urteil haben die nationalen Gerichte "gemäß dem in Artikel (10) EG-Vertrag aufgestellten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit die nationalen Verfahrensvorschriften über die Einlegung von Rechtsbehelfen möglichst so auszulegen und anzuwenden, dass natürliche und juristische Personen die Rechtmäßigkeit jeder nationalen Entscheidung oder anderer Maßnahme, mit der eine Gemeinschaftshandlung allgemeiner Geltung auf sie angewandt wird, gerichtlich anfechten und sich dabei auf die Ungültigkeit dieser Handlung berufen können".
Im Hinblick auf das dem Europäischen Gerichtshof in Ansehung der zuletzt erwähnten Rechtsakte zustehende Verwerfungsmonopol besteht hier ausschließlich eine Mitwirkungsbefugnis durch Herantragen der Gültigkeitsfrage an den Europäischen Gerichtshof.

Die effiziente Erfüllung dieser Aufgaben stellt unter verschiedenen Aspekten Anforderungen an die Tätigkeit des einzelnen Verwaltungsrichters, aber auch an die Ausgestaltung des Organisations- und Verfahrensrechts der Verwaltungsgerichte. Diese sollen aus meiner Sicht im Folgenden dargestellt werden.


3./ Anforderungen an die Ausgestaltung der richterlichen Unabhängigkeit

Die Forderung nach der Respektierung richterlicher Unabhängigkeit ist nicht nur für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, für diese aber in besonderem Maße zu erheben, ist der Verwaltungsrichter doch dazu berufen, andere Staatsgewalten, insbesondere die Exekutive (aber wie oben gezeigt, nicht nur diese) zu kontrollieren. Es stellt sich daher in Bezug auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit die Frage der Unabhängigkeit des Kontrollierenden vom Kontrollierten. Dabei ist zwischen der persönlichen Unabhängigkeit des individuellen Verwaltungsrichters und der strukturellen Unabhängigkeit der Staatsfunktion Verwaltungsgerichtsbarkeit zu unterscheiden.

3.1./ Persönliche Unabhängigkeit

a./ Weisungsfreiheit

Dass der Verwaltungsrichter in Ausübung seines richterlichen Amtes keinen Weisungen unterworfen sein darf, ist unstrittig. Diese Voraussetzung ist auch in allen mir bekannten europäischen Systemen der Verwaltungsgerichtsbarkeit erfüllt.

b./ Ernennung auf unbestimmte Zeit (bis zum Erreichen einer gesetzlich festgelegten Altersgrenze)

Sie sollte meines Erachtens als europäischer Standard für die persönliche Unabhängigkeit von Verwaltungsrichtern definiert werden, wiewohl in manchen Staaten (z.B. Deutschland, Griechenland) derzeit Ersternennungen bloß für einen befristeten Zeitraum erfolgen. Gegen bloß befristete (Erst-)ernennungen spricht meines Erachtens Folgendes:

Zum einen können befristete Ernennungen, insbesondere von Verwaltungsbeamten, die möglicherweise dazu berufen sind, nach Ablauf ihrer Ernennungsperiode wiederum zu ihrer Verwaltungsbehörde zurückzukehren, den Anschein der Parteilichkeit eines Tribunals im Sinne des Art. 6 MRK begründen (vgl. z.B. EGMR 29. April 1988 Nr. 20/1986/118/167 - Belilos gegen Schweiz - EuGRZ 1989, 21 ff). Zum anderen kann meines Erachtens dem berechtigten Anliegen, die Eignung eines Bewerbers für das Richteramt vor einer Ernennung auf unbestimmte Zeit genau zu prüfen, auch durch eine entsprechend praxisorientiert gestaltete, ausreichend lange Ausbildungsphase als Anwärter auf das Richteramt hinreichend Rechnung getragen werden. Es muss nicht betont werden, dass befristete Ernennungen gerade in jenen Staaten besonders problematisch erscheinen, in denen der kontrollierten Verwaltung ein starker Einfluss auf die Frage der Wiederbestellung eingeräumt ist.

c./ Amtsenthebung nur auf Grund eines richterlichen Erkenntnisses

Auch diese Voraussetzung ist - soweit überblickbar - durchwegs verwirklicht. Die Abberufung erfolgt entweder durch richterliches Erkenntnis oder durch Organe der Exekutive oder Legislative auf Grund eines solchen Erkenntnisses. 

d./ starker Versetzungsschutz (Problem der "Flexibilität" des Richtereinsatzes)

Es sollte der Grundsatz gelten, dass nicht nur die Ernennung zum Richter, sondern auch diejenige zum Richter eines bestimmten Gerichtes eine solche auf unbestimmte Zeit (bis zum Erreichen einer gesetzlich festgelegten Altersgrenze) sein sollte. Ernennungen zu anderen Gerichten sollten grundsätzlich nur über entsprechende Bewerbung des Richters erfolgen können. Schließlich führt eine Versetzung ja auch dazu, dass dem Richter die bei ihm bereits angefallenen Geschäftsfälle entzogen werden, was dem für eine allfällige Versetzung zuständigen Organ wiederum Einfluss auf die Person des eine bestimmte Rechtssache (mit-)entscheidenden Richters einräumen würde.

Versetzungen von Verwaltungsrichtern sollten daher nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen zulässig sein (etwa bei disziplinären Verfehlungen oder grundlegenden Änderungen der Gerichtsorganisation); sie sollten dann in die Zuständigkeit richterlicher Gremien fallen. Keinesfalls sollte der kontrollierten Verwaltung die Zuständigkeit zukommen, über Versetzungen von Verwaltungsrichtern gegen deren Willen zu entscheiden.

Es wird nicht verkannt, dass eine größere Flexibilität richterlicher Arbeitskraft einer Steigerung der Effizienz der Verwaltungsgerichtsbarkeit dienlich sein könnte. Gewisse Ausnahmen von den oben umschriebenen Grundsätzen scheinen mir daher überlegenswert. Freilich setzen alle Erwägungen zu einer größeren Flexibilität eine (weitgehende) Selbstverwaltung (siehe dazu unten) der Verwaltungsgerichtsbarkeit und deren Unabhängigkeit von der Exekutive voraus. Unter diesen Prämissen könnte etwa daran gedacht werden, einen gesetzlich festgelegten Prozentsatz (etwa 5%-10%) der (dienstjüngsten) Verwaltungsrichter in einem mehrere Verwaltungsgerichtssprengel umfassenden Gebiet für einen flexiblen Einsatz vorzusehen.
Nachhaltigen Anfallsänderungen sollte zwar durch Umsystemisierungen von Planstellen Rechnung getragen werden; der Ausgleich sollte jedoch nicht - oder nur in Ausnahmefällen, wo dies unerlässlich erscheint - durch Versetzungen erfolgen. Vielmehr sollte ein entstandener Personalüberhang durch das Nichtersetzen von Abgängen durch Beförderungen und Pensionierungen abgebaut werden. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass die hier vorgeschlagenen (sanften) Maßnahmen der Anpassung der Personalressourcen an den Bedarf umso leichter zu bewerkstelligen sind, je größer die Zahl der bei einem Gericht tätigen Verwaltungsrichter ist.

e./ starke Mitwirkung richterlicher Gremien beim beruflichen
Aufstieg

In Ländern, in welchen der berufliche Aufstieg von Verwaltungsrichtern nicht in die Entscheidungsbefugnis von Selbstverwaltungsorganen der Verwaltungsgerichtsbarkeit fällt, sollten Vorschlagsrechte richterlicher Gremien für den beruflichen Aufstieg von Richtern als Mindeststandard vorgesehen werden. Soweit diese Vorschläge nicht bindender Natur sind, sollte das Entscheidungsorgan verpflichtet sein, ein Abweichen von diesen Vorschlägen zu begründen.

3.2./ Strukturelle Unabhängigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit

Damit soll das - auch schon im Zusammenhang mit Fragen der persönlichen Unabhängigkeit des Verwaltungsrichters angesprochene - Problem behandelt werden, wie die Justizverwaltung der Verwaltungsgerichtsbarkeit geführt werden soll. 
Zu diesem Fragenkomplex hat sich der österreichische Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 10. März 2000, VfSlg. Nr. 15.762, mit Bezug auf den österreichischen Verwaltungsgerichtshof (VwGH) wie folgt geäußert:

"Im Gegensatz zu den ordentlichen Gerichten, die von Verfassungs wegen einen Teilbereich der (- im Dritten Hauptstück des B-VG geregelten -) Vollziehung des Bundes bilden und (wie insbesondere aus Art 92 B-VG folgt) zur Entscheidung in Zivil- und Strafrechtssachen berufen sind, obliegt dem VwGH ((gemeinsam mit dem Verfassungsgerichtshof) als Träger der - wie die Überschrift des Sechsten Hauptstücks des B-VG ausdrücklich besagt - "Garantien der Verfassung und Verwaltung") - und zwar auch in Kontrolle der unabhängigen Verwaltungssenate - "die Sicherung der Gesetzmäßigkeit der gesamten öffentlichen Verwaltung" (vgl. Art 129 B-VG). Damit ist der VwGH auch zur Kontrolle individueller hoheitlicher Rechtsakte sämtlicher Mitglieder der Bundesregierung, mithin auch solcher des Bundeskanzlers sowie der Bundesregierung überhaupt berufen. Ein derartiges verfassungsmäßig (bereits zum Zeitpunkt der (inhaltlichen) Erlassung des §18 vorgegebenes) Kontrollsystem erlaubt keinen wie immer gearteten effektiven Eingriff des kontrollierten Organs in die Funktion des Kontrollierenden; eine solche Annahme bedeutete nämlich geradezu eine Umkehrung der Kontrollrichtung und erwiese sich als schlechthin systemwidrig..."

Dem ist nichts hinzuzufügen. Außer vielleicht, dass die strukturelle Unabhängigkeit nicht nur für Verfassungsgerichte bzw. für oberste Verwaltungsgerichte von Bedeutung ist, sondern für alle zur Kontrolle der Verwaltung berufenen Tribunale. Dabei erscheinen Einflussnahmemöglichkeiten (von Zweigen) der Verwaltung auf die Justizverwaltung der Verwaltungsgerichtsbarkeit meines Erachtens umso bedenklicher, je enger die sachliche und örtliche Beziehung zwischen dem Verwaltungsgericht und dem dieses verwaltenden jeweiligen Zweig der Verwaltung ist. Es erscheint daher etwa besonders bedenklich, wenn dem für den Vollzug des Asylrechtes im Bereich der Exekutive zuständigen Innenminister gleichzeitig die Leitung der Justizverwaltung eines auf die justizförmige Kontrolle dieses Vollzuges spezialisierten Asylgerichtes übertragen wird.

Alle diese Argumente sprechen meines Erachtens für eine stark ausgeprägte "Selbstverwaltung" der Verwaltungsgerichtsbarkeit, wie sie in einer beträchtlichen Zahl europäischer Staaten bereits in Form des Systems der an der Spitze der Justizverwaltung stehenden sogenannten Justizräte verwirklicht ist. Neben einer Mehrzahl von den Richtern gewählter Mitglieder sollten diesen Organen insbesondere Vertreter jener Institution angehören, in deren Interesse die Kontrollaufgaben der Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgeübt werden, also des Parlaments (wodurch die notwendige demokratische Legitimation des Justizrates sichergestellt wird). Da die Verwaltungsgerichtsbarkeit aber überdies zur Durchsetzung des Anwendungsvorranges des Gemeinschaftsrechtes berufen ist, könnte meines Erachtens auch eine Mitwirkung von Vertretern der Europäischen Union in nationalen Justizräten angedacht werden.

Selbstverwaltung soll jedoch nicht dazu ausarten, dass die Verwaltungsgerichtsbarkeit gezwungen wird, gleichsam "eigenverantwortlich" Mangelbewirtschaftung zu betreiben, was dann der Fall wäre, wenn die dieser Staatsfunktion vom Budgetgesetzgeber zur Verfügung gestellten finanziellen Ressourcen unzureichend bemessen würden. Justizräten sollte daher meines Erachtens das Recht zur Gesetzesinitiative in Ansehung des vom Parlament zur beschließenden jährlichen Budgets für die Verwaltungsgerichtsbarkeit eingeräumt werden. Wünschenswert wäre darüber hinaus die Einräumung eines dem Justizrat gegen eine ungerechtfertigte finanzielle Aushungerung der Verwaltungsgerichtsbarkeit offen stehenden Rechtsbehelfes, etwa einer Beschwerde an das nationale Verfassungsgericht.


4./ Anforderungen an Kontrolldichte und Entscheidungsbefugnis

4.1./ Rechtskontrolle, umfassend auch die Auslegung unbestimmter Gesetzesbegriffe

Dass einer effektiven Verwaltungsgerichtsbarkeit wohl jedenfalls die Befugnis zur Rechtskontrolle zukommen muss, ist heute allgemein akzeptiert. Diese sollte auch die Durchsetzung der Auslegung unbestimmter Gesetzesbegriffe durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit umfassen.

4.2./ Ermessen der Verwaltung

Andererseits sollten die der Verwaltung vom Gesetzgeber eingeräumten Ermessensspielräume bzw. Einschätzungsprärogativen von der Verwaltungsgerichtsbarkeit respektiert werden. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit soll ja - von den Fällen der Säumnis der Verwaltung (dazu später) abgesehen - nicht selbst verwalten. In den genannten Bereichen wird sich die Kontrolle daher darauf zu beschränken haben, ob das Ermessen im Sinne des Gesetzes und nicht etwa missbräuchlich ausgeübt wurde.

4.3./ Tatsachenkontrolle, Zulässigkeit eigener Sachverhaltsermittlungen durch die Verwaltungsgerichte im Zuge einer öffentlichen mündlichen Verhandlung

Es sollte meines Erachtens als Standard für eine europäische Verwaltungsgerichtsbarkeit definiert werden, dass die - nicht selten entscheidende - Lösung der Tatsachenfrage der umfassenden Kontrolle durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit unterworfen wird. Eine so definierte umfassende Kontrolle hat auch die Befugnis des erstinstanzlichen Verwaltungsgerichtes zur Durchführung eigener Sachverhaltsermittlungen in einer mündlichen Verhandlung und zur Vornahme einer eigenständigen Beweiswürdigung zu umfassen. Eine zur Bewältigung dieser Aufgabe eingerichtete Struktur der erstinstanzlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit wird durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte nahegelegt, wonach im Bereich des Art. 6 MRK (Angelegenheiten der "civil rights" werden ja von den innerstaatlichen Rechtsordnungen nicht selten Verwaltungsbehörden zum Vollzug übertragen), die Parteien das Recht haben, die Tatsachenfrage umfassend an ein Tribunal heranzutragen.

Systeme, in denen - im Rahmen der Prüfung einer Mangelhaftigkeit des Verwaltungsverfahrens - lediglich eine nachprüfende gerichtliche Kontrolle der Beweiswürdigung der Verwaltungsbehörde auf ihre Schlüssigkeit, nicht aber auf ihre Richtigkeit ausgeübt wird, können zwar nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Einzelfall den Anforderungen des Art. 6 MRK genügen (wenn die diesbezüglichen Argumente des Beschwerdeführers "point by point" behandelt werden), sind jedoch alles andere als effektiv, zumal die Verneinung der Schlüssigkeit der Beweiswürdigung in solchen Systemen lediglich zur Kassation der Verwaltungsentscheidung ohne Überbindung einer eigenständigen Lösung der Tatsachenfrage durch das Verwaltungsgericht führen kann, was der Verwaltung die Möglichkeit einräumt, ihre Sicht der Tatsachenfrage mit neuen Begründungselementen abermals an das Verwaltungsgericht heranzutragen. Dies könnte dann wiederum zur Kassation und damit zu weiteren Verzögerungen der Lösung des Verwaltungsrechtsstreites führen ("Kassationskaskaden").

Schließlich setzt das Gemeinschaftsrecht (in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof) die Befugnis des nationalen Verwaltungsrichters zur Ermittlung der für die Beurteilung des Falles aus diesem Gesichtspunkt erforderlichen Tatsachen gleichsam als selbstverständlich voraus.

4.4./ Meritorische Entscheidungsbefugnis des erstinstanzlichen
Verwaltungsgerichts

Sind (im Sinne der vorstehenden Ausführungen) die Sachfragen durch das erstinstanzliche Verwaltungsgericht geklärt und hängt die Entscheidung nicht von einer Ermessensübung durch die Verwaltung ab, so spricht aus dem Gesichtspunkt der Effektivität und Effizienz des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes alles für eine meritorische (abschließende) Entscheidung des Rechtsstreites durch das Verwaltungsgericht. Diesfalls würde eine Kassation nur zu weiteren Verzögerungen des Verfahrens (bis zur Erlassung einer dem Rechtsstandpunkt des Gerichtes entsprechenden Verwaltungsentscheidung), im Falle des Widerstrebens der Verwaltung sogar zu Säumnisproblemen oder zur Notwendigkeit weiterer Kassationen führen.


5./ Anforderungen an den vorläufigen Rechtsschutz

Die Effektivität des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes verlangt entsprechende Instrumentarien des vorläufigen Rechtsschutzes. Dieser sollte sich nicht darin erschöpfen, im Bereich der Eingriffsverwaltung eine Aufschiebung der Vollstreckbarkeit von Verwaltungsentscheidungen durch das Verwaltungsgericht vorzusehen; vielmehr sollte auch im Bereich der gewährenden Verwaltung die vorläufige Zuerkennung von Rechten durch das Verwaltungsgericht ermöglicht werden. Anzumerken sei in diesem Zusammenhang, dass die Verwaltungsgerichte im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechtes zur Setzung (auch) derartiger Provisorialmaßnahmen bei Vorliegen der in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes dargelegten Voraussetzungen ohnedies verpflichtet sind. Sie sollten aber auch außerhalb des Anwendungsbereiches des Gemeinschaftsrechtes zum Standard erhoben werden.


6./ Durchlaufen von Instanzenzügen innerhalb der Verwaltung vor Anrufbarkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit ?

Eine effektive verwaltungsgerichtliche Kontrolle sollte relativ rasch einsetzen. Die Anrufung der Verwaltungsgerichtsbarkeit sollte daher schon gegen die erstinstanzliche Verwaltungsentscheidung möglich sein. Systeme, welche die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtes erst nach Durchlaufen (allenfalls vielgliedriger) Instanzenzüge innerhalb der Verwaltung zulassen, sind unter dem Gesichtspunkt der Effektivität der Kontrolle eher abzulehnen. Einerseits führen sie zu einer Verlängerung der Gesamtverfahrensdauer, andererseits verhindern sie auch ein entsprechend frühes Einsetzen provisorischen Rechtsschutzes durch die Verwaltungsgerichte; solche Systeme würden ihrerseits entsprechende Provisorialmaßnahmen durch die Verwaltung selbst voraussetzen, gegen deren Ablehnung wiederum höhere Verwaltungsinstanzen (und sodann die Verwaltungsgerichte) anrufbar wären, was (neben dem Verfahren in der Sache selbst) auch zu einem in mehreren Instanzen zu führenden Provisorialverfahren vor der Verwaltung führen würde. Dies erschiene weder effizient noch effektiv. In diesem Zusammenhang sei noch erwähnt, dass es den übergeordneten Verwaltungsbehörden ja zumeist ohnedies freisteht, im Weisungswege auf die Gestaltung der erstinstanzlichen Verwaltungsentscheidung einzuwirken oder dieselbe im Aufsichtswege zu Gunsten der Partei aufzuheben oder abzuändern. Dies könnte dann allenfalls zu einer Gegenstandslosigkeit des gegen die erstinstanzliche Verwaltungsentscheidung angestrengten verwaltungsgerichtlichen Verfahrens führen.


7./ Anforderungen an die Ausgestaltung des Instanzenzuges innerhalb der Verwaltungsgerichtsbarkeit

7.1./ Erstinstanzliche Gerichte mit voller Tatsachenkognition - regionale 
Gliederung

Wie oben unter 4.3./ erwähnt, sollen erstinstanzliche Verwaltungsgerichte mit voller Tatsachenkognition (auf Grund einer durchgeführten mündlichen Verhandlung) eingerichtet werden. Dies legt jedenfalls in großen und mittleren Staaten deren regionale Gliederung nahe, um die Verhandlung in örtlicher Nähe zu den Beweismitteln abhalten zu können.

7.2./ Rechtsvereinheitlichung durch ein Höchstgericht

Zur Wahrung der Einheitlichkeit der (innerstaatlichen) Verwaltungsrechtsprechung erscheint die Einrichtung zumindest einer weiteren verwaltungsgerichtlichen Instanz (eines obersten in Verwaltungsrechtssachen tätigen Gerichtes) unerlässlich. 
Anders als die erstinstanzlichen Verwaltungsgerichte könnte dieses Höchstgericht als ein auf materielle und prozessuale Rechtsfragen beschränktes Kassationsgericht eingerichtet werden. Auch Zugangsbeschränkungen (Kognition nur in Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung) verbunden mit Modellen eines Ablehnungsrechtes oder einer Zulassungsrevision könnten angedacht werden.

In der historischen Entwicklung ließ sich in manchen Staaten feststellen, dass die Verwaltungsgerichtsbarkeit zunächst bei einem (meist nur kassatorisch entscheidenden) obersten (Verwaltungs-)gericht konzentriert war. Die damit verbundene zunehmende Überlastung dieses Gerichtes sowie die Unzulänglichkeit der Kontrolldichte (insbesondere im Sachverhaltsbereich) hat sodann zur Einrichtung vorgeschalteter (erstinstanzlicher) Verwaltungsgerichte geführt. In Preußen fand diese Entwicklung noch im 19. Jahrhundert statt, in Finnland 1955, in Griechenland 1958, in Italien 1974, in Schweden 1979, und in Polen 2004. In Österreich wurde - neben ersten Ansätzen in besonderen Gebieten der Verwaltung - eine entsprechende Gesamtreform von einem mit der Erstattung von Vorschlägen für eine Verfassungsreform betrauten Konvent ausgearbeitet, bisher jedoch noch nicht umgesetzt.

7.3./ Zwischeninstanzen (Berufungsgerichte)

Die Einrichtung einer Zwischeninstanz (also ein insgesamt dreigliedriger Instanzenzug) erscheint wohl nur in größeren Staaten sinnvoll. Jedenfalls gilt, dass jede weitere Gerichtsinstanz zu einer Verlängerung der Gesamtdauer des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens beitragen kann.

8./ Anforderungen an die Kooperation der Verwaltungsgerichte mit anderen Gerichten

8.1./ Kooperation mit dem innerstaatlichen Verfassungsgericht

Die Zentralisierung der Entscheidungsbefugnis in Verfassungsfragen und damit zusammenhängend zur Auslegung innerstaatlicher Grundrechtskataloge bei einem darauf spezialisierten innerstaatlichen Verfassungsgericht entspricht den Rechtstraditionen vieler europäischer Staaten. Wie unter 2.2./ ausgeführt, hat ein solcherart organisiertes System der Verfassungsgerichtsbarkeit vielfach die Notwendigkeit eines Zusammenwirkens zwischen der Verwaltungsgerichtsbarkeit und dem Verfassungsgericht dergestalt zur Folge, dass die Verwaltungsgerichte bei Verfassungs-(Grundrechts-)bedenken gegen einfachgesetzliche Regelungen verpflichtet sind, entsprechende Anträge an das Verfassungsgericht zu stellen. Manche dieser Systeme bringen es schließlich auch mit sich, dass das Verfassungsgericht nicht bloß auf die Entscheidung von Verfassungsfragen beschränkt ist, sondern der Verwaltungsgerichtsbarkeit auch so genannte verfassungskonforme Auslegungen des einfachen Gesetzes vorgibt. Mit der Einräumung einer Auslegungshoheit hinsichtlich des Bedeutungsgehaltes auch einfacher Gesetze entfernt sich die Stellung einer so organisierten Verfassungsgerichtsbarkeit von einer auf Verfassungsfragen spezialisierten (und reduzierten) Sondergerichtsbarkeit und nähert sich jener eines „Supreme Court“ an.

Wie die unter 2.2./ genannten Beispiele zeigen, kann die Effektivität der innerstaatlichen Verfassungsordnung auch durch ein System ihres Anwendungsvorranges und damit verbunden der Befugnis der (Verwaltungs-)gerichte, verfassungswidriges Recht unangewendet zu lassen, gewährleistet werden. Vom Standpunkt der Effizienz der Verwaltungsgerichtsbarkeit sind die letztgenannten Systeme meines Erachtens vorzuziehen, weil sie – weitere Verfahrensverzögerungen mit sich bringende – Inzidenzverfahren vor dem Verfassungsgericht vermeiden. Solche weiteren Verfahrensverzögerungen durch Schaffung einer zusätzlichen Instanz entstehen darüber hinaus in Systemen, in denen die Entscheidungen (letztinstanzlicher) Verwaltungsgerichte der Kontrolle auf ihre Verfassungsmäßigkeit durch ein Verfassungsgerichtsgericht unterworfen werden.

Für die unter 2.2./ erwähnten Systeme des Anwendungsvorranges von innerstaatlichem Verfassungsrecht vor entgegenstehenden innerstaatlichen Gesetzen spricht aber auch der Umstand, dass die – mit den innerstaatlichen Grundrechtskatalogen zwar nicht identischen, aber vielfach vergleichbaren – Grundfreiheiten und Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechtes gegen entgegenstehendes innerstaatliches Recht über das System des Anwendungsvorranges durch Gerichte und Behörden durchzusetzen sind und diese Aufgabe und die damit verbundene Vorlagepflicht an den Europäischen Gerichtshof innerstaatlich in letzter Instanz gerade nicht den Verfassungsgerichten, sondern den obersten (Verwaltungs-)gerichten übertragen ist.

8.2./ Kooperation mit dem Europäischen Gerichtshof

Auch dieses – aus dem Gesichtspunkt der Effektivität des Gemeinschaftsrechtes wohl unerlässliche – Erfordernis von Inzidenzverfahren durch Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof kann eine Quelle für Verfahrensverzögerungen bilden. Dies gilt insbesondere für die Situation letztinstanzlicher Verwaltungsgerichte, ist doch für sie im Bereich der ersten Säule immerhin jede vom Europäischen Gerichtshof bislang nicht entschiedene Auslegungsfrage (von den „ohne vernünftige Zweifel“ lösbaren Fragen abgesehen) vorlagepflichtig. Demgegenüber obliegt die Anwendung von Gemeinschaftsrecht (in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof) auf den Einzelfall den innerstaatlichen Gerichten. Die Frage, welche Teile des Rechtsanwendungs- (Subsumtions-)prozesses in einem bestimmten Fall (noch) der Auslegung und welche (schon) der Anwendung auf den Einzelfall zuzuordnen sind, dürfte nicht immer einfach zu beantworten sein. Ob sie selbst Gegenstand eines Vorabentscheidungsverfahrens sein könnte und müsste, soll hier nicht erörtert werden. Ein (etwas) weiteres, aber unter Berücksichtigung der Effektivität und der Einheitlichkeit der Auslegung des Gemeinschaftsrechtes nicht zu weites Verständnis des zuletzt genannten Begriffes könnte dazu beitragen, ein Ausufern der Vorlagepflicht und damit eine Überlastung des Europäischen Gerichtshofes hintanzuhalten.

Nicht unerwähnt bleiben soll, dass auch aus dem hier behandelten Gesichtspunkt die Einrichtung einer zumindest in zwei Instanzen gegliederten Gerichtsbarkeit auf innerstaatlicher Ebene unerlässlich erscheint, zumal bei einer nur bei einem obersten Gericht konzentrierten Verwaltungsgerichtsbarkeit jede an sie herangetragene Auslegungsfrage des Gemeinschaftsrechtes unmittelbar zur Einholung eines Vorabentscheidungsersuchens an den Europäischen Gerichtshof zu führen hat. In Systemen mit vorgeschalteten Verwaltungsgerichten stünde diesen die Möglichkeit offen, eine nahe liegende, wenn auch nicht „ohne jede vernünftige Zweifel“ eindeutige Auslegung des Gemeinschaftsrechtes vorzunehmen, welche allenfalls von den Parteien des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens akzeptiert werden könnte. Jedenfalls müssen solche Systeme aber sicherstellen, dass in Ansehung aller Auslegungsfragen des Gemeinschaftsrechtes der Zugang zum letztinstanzlichen Verwaltungsgericht im Rechtsmittelverfahren offen steht, um in strittig verbleibenden Fällen die Vorlage an den Europäischen Gerichtshof sicherzustellen.


9./ Anforderungen an den Rechtsschutz gegen Säumnis der Verwaltung

9.1./ Art. 6 und 13 EMRK

Auch in Angelegenheiten der „civil rights“ im Verständnis des Art. 6 Abs. 1 EMRK ist die Übertragung der Vollzugszuständigkeit an Verwaltungsbehörden unter der nachprüfenden Kontrolle von Verwaltungsgerichten nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zulässig. Diesfalls ist für die Frage, ob eine der zitierten Bestimmung der EMRK widersprechende Verfahrenverzögerung vorliegt, sowohl die Dauer des Verwaltungsverfahrens als auch die Dauer des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens zu berücksichtigen (vgl. das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 28.6.1978 in der Rechtssache König vs. Germany, RZ 98). Auch der in Art. 13 EMRK geforderte effektive Rechtsbehelf muss daher – jedenfalls im Bereich der der Verwaltung zum Vollzug übertragenen „civil rights“ - Abhilfe gegen ungerechtfertigte Verzögerungen des Verwaltungsverfahrens schaffen. Die Möglichkeit der Anrufung der Verwaltungsgerichtsbarkeit gegen ungerechtfertigte Säumnis der Verwaltung sollte aber generell Standard für ein System einer effektiven und effizienten Verwaltungsgerichtsbarkeit darstellen. 

9.2./ Erfordernis nicht bloß einer Sanktion, sondern eines
"verfahrensbegleitenden" effektiven Rechtsschutzes

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte darf sich der in Art. 13 EMRK geforderte Rechtsbehelf nicht bloß auf eine nachträgliche Feststellung oder Sanktion beschränken, sondern muss geeignet sein, das Verfahren durch begleitende Maßnahmen, wie etwa durch Fristsetzungen (für bestimmte Verfahrenshandlungen) zu beschleunigen (vgl. das Urteil vom 8.6.2006 in der Rechtssache Sürmeli v. Germany). Diese Aussagen dürften wohl auch für den Schutz vor Säumnis durch die Verwaltung gelten.

9.3./ Fristsetzungen durch die Verwaltungsgerichte an die Verwaltung 
unabhängig vom Verschulden von Verwaltungsorganen an der
Säumnis

Ein effizienter Rechtsbehelf könnte in einem Antragsrecht der Parteien auf (das Verwaltungsverfahren begleitende) Fristsetzungen durch das Verwaltungsgericht an die Verwaltung bestehen. Solche müssten freilich unabhängig von einem Verschulden von Organwaltern der Verwaltung zulässig sein.


9.4./ Übergang der Entscheidungsbefugnis von der Verwaltung an das
Verwaltungsgericht als Folge fortgesetzter Säumnis

Manche Systeme (etwa die in Österreich vorgesehene Säumnisbeschwerde an den Verwaltungsgerichtshof) kennen die Möglichkeit, dass – als Sanktion gegen fortgesetzte Säumnis der Verwaltung – die Zuständigkeit zur materiellen Entscheidung der Verwaltungssache von der Verwaltung auf das Verwaltungsgericht übergeht. Dieses System hat sich im Verhältnis zur monokratischen Verwaltung im Großen und Ganzen als effektiv erwiesen, weil die Verwaltung zur Vermeidung des Verlustes ihres Ermessensspielraumes ihre flexiblen Personalressourcen auf die betroffenen Fälle konzentriert hat.


10./ Anforderungen an den Rechtsschutz gegen Säumnis der Verwaltungsgerichte

10.1./ Art. 6 und 13 EMRK

Die Notwendigkeit eines effektiven Rechtsschutzes gegen die Säumnis von Verwaltungsgerichten ergibt sich für „civil rights“ aus den unter 9.1./ (dort für das Verfahren vor den Verwaltungsbehörden) dargelegten Argumenten.

10.2./ Beschleunigungsmaßnahmen und Fristsetzungen

In dem bereits zitierten Urteil vom 8.6.2000 in der Rechtssache Sürmeli vs. Germany begrüßt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (RZ 138 ff.) ausdrücklich die Initiative Deutschlands zur gesetzlichen Implementierung solcher Maßnahmen, wobei in diesem Zusammenhang zunächst an einen nicht devolutiven Rechtsbehelf an das Prozessgericht und – im Falle weiterer Säumnis – an entsprechende Anordnungen (etwa Fristsetzungen zur Durchführung bestimmter Verfahrenshandlungen) durch ein übergeordnetes Gericht gedacht ist. Da mit derartigen Maßnahmen in die Verfahrensführung des Verwaltungsgerichtes eingegriffen wird, dürfen solche meines Erachtens nur durch richterlichen Akt, also durch die Entscheidung eines übergeordneten Verwaltungsgerichtes (keinesfalls aber durch die Verwaltung, durch Volksanwälte oder durch monokratische Justizverwaltungsorgane) erfolgen. Die Maßnahme sollte keinesfalls das individuelle Verschulden einzelner Richter voraussetzen.

Nicht unerwähnt bleiben soll freilich, dass in vielen Staaten die überlange Dauer verwaltungsgerichtlicher Verfahren ihre Hauptursache nicht in einer unzweckmäßigen oder nachlässigen Prozessführung durch die jeweiligen Richter hat, sondern in einer – im Vergleich zu den immer komplexer werdenden Sach- und Rechtsfragen, die zu entscheiden sind – strukturellen Unterdotierung der der Verwaltungsgerichtsbarkeit zur Verfügung stehenden personellen und sachlichen Ressourcen. Das oben umschriebene Konzept der Fristsetzung könnte aber nur dann effektive Abhilfe gegen Verfahrensverzögerungen schaffen, wenn die entsprechenden Ressourcen vorhanden sind. In den 

 in der Realität vielfach vorliegenden – Fällen des Fehlens dieser Ressourcen führt das Konzept einer Beschleunigung einzelner Verfahren durch Rechtsbehelfe gegen die „Untätigkeit“ eines Gerichtes in einem bestimmten Einzelfall während der Zeit, in welcher andere Fälle bearbeitet werden, lediglich zu einer „Umreihung“ der Behandlung von Rechtssachen, je nachdem, ob Parteien durch die Ergreifung derartiger Rechtsbehelfe auf Erledigung drängen oder nicht. Dies könnte wiederum zur routinemäßigen Ergreifung solcher Rechtsbehelfe durch die Parteien führen, wodurch nicht einmal mehr eine Umreihung bewirkt würde. Wirklich effektiv wären in diesen Fällen nur Rechtsbehelfe, wie sie oben unter 3.2./ als solche eines Justizrates gegen den Budgetgesetzgeber vorgeschlagen wurden.

10.3./ Übergang der Entscheidungsbefugnis auf das übergeordnete
Verwaltungsgericht?

Anders als zwischen der Verwaltung und einem erstinstanzlichen Verwaltungsgericht erscheint die Einräumung eines auf den Übergang der Entscheidungsbefugnis vom (säumigen) erstinstanzlichen Verwaltungsgericht auf ein übergeordnetes Verwaltungsgericht abzielenden Rechtsbehelfes nicht zweckmäßig. Anders als die Verwaltung kann das (säumige) Verwaltungsgericht infolge des Prinzips der festen Geschäftsverteilung und des Unmittelbarkeitsprinzips nur schwer zusätzliche personelle Ressourcen in die beschleunigte Erledigung bereits anhängiger Fälle investieren und hat auch nicht das für die monokratische Verwaltung charakteristische Interesse am Erhalt einer Entscheidungsbefugnis im Ermessensbereich. Der tatsächliche Übergang der Entscheidungsbefugnis auf ein übergeordnetes Gericht, welches ja im allgemeinen für die Lösung von Tatfragen weniger gut eingerichtet ist, vom Ort des Geschehens weiter entfernt liegt und welches seinerseits das Unmittelbarkeitsprinzip zu wahren, also das Verfahren zu wiederholen hätte, würde wohl eher zu weiteren Verfahrensverzögerungen führen.

10.4./ Schutz gegen Säumnis des obersten Verwaltungsgerichts

Hier kommt – neben Maßnahmen zur entsprechenden Ausstattung dieser Gerichte – wohl nur der unter 10.2./ angesprochene nicht devolutive Rechtsbehelf in Betracht.


11./ Anforderungen an das Prozessrecht der Verwaltungsgerichte

Dieses Problem kann hier nur in Ansätzen behandelt werden. Zu betonen ist jedoch, dass die Ausgestaltung des Prozessrechtes der Verwaltungsgerichte einen maßgeblichen Beitrag zur Verfahrensbeschleunigung leisten kann.

11.1./ Inquisitionsmaxime – Dispositionsmaxime

Die Rechtstraditionen vieler europäischer Staaten sehen – entsprechend dem öffentlich-rechtlichen Charakter der zu vollziehenden Rechtsmaterien – eine amtswegige Ermittlungspflicht der Verwaltungsgerichte vor. Im Sinne einer Verfahrensbeschleunigung effizienter wäre es freilich – ähnlich wie im Zivilprozess – den Parteien des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens Beibringungslasten aufzuerlegen. Dies hätte allerdings zur Folge, dass eine unzweckmäßige Prozessführung durch die Verwaltung zu Lasten der von ihr vertretenen öffentlichen Interessen, eine solche durch die Partei zu Lasten ihrer Rechte ginge.

Damit hängt auch die Verwertbarkeit von Modellen der Mediation für die Verwaltungsgerichtsbarkeit zusammen. Die Zivilgerichtsbarkeit wird in hohem Maße durch die Möglichkeit der Herbeiführung gütlicher Einigungen zwischen den Parteien entlastet. In vielen europäischen Staaten ist diese Möglichkeit im Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit verschlossen, weil die Verwaltung zur Gleichbehandlung aller Bürger verpflichtet ist, was eine Verhandelbarkeit der vor den Verwaltungsgerichten in Streit stehenden Rechtsfragen nach wirtschaftlichen oder Zweckmäßigkeitskriterien ausschließen könnte.

11.2./ Ab wann soll ein Neuerungsverbot gelten?

Wie unter 4.3./ ausgeführt, sollte die Möglichkeit bestehen, den Sachverhalt ohne Beschränkung an die Verwaltungsgerichtsbarkeit heranzutragen. Ein Neuerungsverbot könnte daher erst im Verfahren vor den erstinstanzlichen Verwaltungsgerichten Platz greifen. Demgegenüber erscheint es meines Erachtens keinesfalls erforderlich, noch im Rechtsmittelverfahren vor den zweitinstanzlichen Verwaltungsgerichten Neuerungen, die zu weiteren Verzögerungen des Verfahrens führen können, zuzulassen.

11.3./ Sonstige Beschleunigungsmaßnahmen

Den Verwaltungsgerichten sollte die Möglichkeit eingeräumt werden, in offenkundiger Verschleppungsabsicht erhobenes Vorbringen unbeachtet zu lassen. Weiters wäre es sinnvoll, den Verwaltungsgerichten das Recht einzuräumen, bei Beweisanboten (etwa Rechtshilfevernehmungen ausländischer Beweispersonen), deren Durchführbarkeit in angemessener Zeit zweifelhaft erscheint, entsprechende Fristen zu setzen, nach deren fruchtlosem Ablauf das Verfahren ohne diese Beweisaufnahme fortgesetzt wird.



12./ Notwendigkeit entsprechender Vorkehrungen im Prozessrecht, nach dem die Verwaltungsbehörden vorzugehen haben, um auch ihnen die Entscheidung innerhalb angemessener Fristen zu ermöglichen.

Aus den unter 9.1./ angeführten Gründen sind entsprechende verfahrensbeschleunigende Maßnahmen auch in den für die Verwaltung selbst geltenden Verfahrensordnungen unerlässlich.


13./ Hinweis auf bereits in Angriff genommene Evaluierungen der Verwaltungsgerichtsbarkeit

Im Hinblick auf das geplante Observatorium sei in diesem Zusammenhang nur kurz auf bereits im Gange befindliche Maßnahmen zur Evaluierung der (Verwaltungs-)gerichtsbarkeit durch andere Institutionen hingewiesen, nämlich durch die Europäische Kommission, Generaldirektion Recht, Freiheit und Sicherheit sowie 
durch den Europarat im Rahmen der CEPEJ und des CCEJ.


14./ Zusammenfassung:

Als Standards für eine effektive und effiziente Verwaltungsgerichtsbarkeit lassen sich zusammenfassend definieren:

* Garantie der persönlichen Unabhängigkeit der Verwaltungsrichter
und der strukturellen Unabhängigkeit der
Verwaltungsgerichtsbarkeit von der kontrollierten 
Verwaltung, insbesondere in Ansehung der Verfügbarkeit 
personeller und sachlicher Ressourcen
* Zumindest zwei Instanzen, davon zumindest eine mit voller Befugnis zur Sachverhaltsermittlung und -kontrolle
* Effektiver provisorischer Rechtsschutz
* Effektiver Rechtsschutz gegen Säumnis der Verwaltung und der Verwaltungsgerichte
* Erfüllung der Erfordernisse des Art. 6 EMRK in Ansehung der Verfahrensdauer (auch in Materien, die nicht "civil rights" sind).